Mit der bundesweiten Einführung von sog. Commercial Courts will Deutschland dem schon seit geraumer Zeit bestehenden Wunsch der deutschen Justiz sowie der deutschen Anwaltschaft nach einer wettbewerbsfähigen Alternative zur (internationalen) Schiedsgerichtsbarkeit Rechnung tragen. Dass ein solches Reformbedürfnis besteht, verdeutlicht der herausragende Erfolg der 2020 eingeführten Commercial Courts in Stuttgart und Mannheim. Auf dem Stuttgarter Commercial Court-Symposium am 8. Mai 2023 zieht der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart Dr. Andreas Singer nach gut zwei Jahren eine durchweg positive Bilanz:
„Wir haben als baden-württembergische Justiz verstanden, dass große Wirtschaftsverfahren nur dann bei uns stattfinden, wenn wir uns darum bemühen. Mit hochspezialisierten Richtern und kurzen Verfahrenszeiten machen wir den hier ansässigen Unternehmen und Rechtsanwälten ein attraktives Angebot. Niemand muss mehr ins Ausland gehen für die Entscheidung komplexer Wirtschaftsstreitigkeiten. Es gibt für jeden die Auswahl des für seine Bedürfnisse besten Verfahrens“.
Aktuelle Situation der deutschen Gerichtsbarkeit und Reformbedürfnis zur Stärkung des Gerichtsstandorts Deutschland im internationalen Wettbewerb
Nach den Ergebnissen einer vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen Studie ist die Anzahl der Verfahren vor staatlichen Gerichten in Deutschland – ungeachtet der zehntausenden „Diesel“-Fälle – in den letzten 25 Jahren massiv zurückgegangen. Insbesondere im Hinblick auf (internationale) Wirtschaftsstreitigkeiten mit hohen Streitwerten ist in den letzten Jahren ein extremer Abgang von der staatlichen Gerichtsbarkeit zu den privaten Schiedsgerichten festzustellen, so dass zwischenzeitlich ein Wettbewerb mit staatlichen Gerichten in diesem Bereich kaum noch stattfindet, was zu einer bedenklichen Monopolstellung der Schiedsgerichte geführt hat.
Dass insbesondere die Fallzahlen der für diese Streitigkeiten grundsätzlich zuständigen Spezialkammern an den Landgerichten so niedrig sind, ist auf die verschiedenen Defizite dieser Spezialkammern zurückzuführen. So besitzen die Richter1 in den Spezialkammern lediglich eine allgemeine wirtschaftsrechtliche Spezialisierung und viele Verfahren werden entweder gar nicht oder nur teilweise auf Englisch geführt. Zudem ist es deutsche Verhandlungspraxis, dass von den Verhandlungen und Zeugenvernehmungen lediglich vom Vorsitzenden diktierte Sinnprotokolle und nicht, wie im anglo-amerikanischen Raum üblich, Wortprotokolle erstellt werden. Des Weiteren kann der Instanzenzug nicht beschränkt werden, was zu einer enormen Kostenbelastung führt. Schließlich hängt die Vollstreckung deutscher Urteile in Staaten außerhalb der EU – insbesondere in den USA, China und Japan – von bi- bzw. multilateralen Abkommen ab und ist in der Praxis daher oftmals umständlich oder gar unmöglich.
Alles in allem bietet die ordentliche Gerichtsbarkeit in Deutschland insbesondere für große Wirtschaftsstreitigkeiten derzeit wohl keine zeitgemäße Verfahrensmöglichkeit an. Vor diesem Hintergrund bedarf es zu Recht einer Stärkung des Justiz- und Wirtschaftsstandorts Deutschland durch eine Reform des deutschen Justizsystems. Ein zentraler Baustein der hierzu ausgehenden Reformbemühungen ist die Einführung sog. Commercial Courts in ganz Deutschland. Damit sollen deutsche Gerichte international wettbewerbsfähig und eine weitere Abwanderung von Streitigkeiten in die (internationale) Schiedsgerichtsbarkeit verhindert werden. Sämtliche Gesetzesinitiativen zur Einrichtung solcher Commercial Courts sind jedoch bisher gescheitert.
Relevanz und Erfolg der Commercial Courts am Vorbild Baden-Württembergs
Parallel zu den diversen, bisher erfolglosen Gesetzesinitiativen der letzten Jahre sind einige Bundesländer bereits innerhalb des geltenden Rechtsrahmens aktiv geworden. So haben Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen verschiedene Spezialkammern bei Landgerichten und Spezialsenate bei Oberlandesgerichten für internationale Wirtschaftsstreitigkeiten errichtet. Baden-Württemberg hat dabei als erstes Bundesland im Herbst 2020 seine eigenen Commercial Courts an den Landgerichten in Stuttgart und Mannheim eingeführt (www.commercial-court.de und www.commercialcourt.de), die durch Spezialsenate am OLG Stuttgart und Karlsruhe (sog. Commercial Courts of Appeal) ergänzt wurden.
Der Commercial Court in Stuttgart und in Mannheim besteht jeweils aus einer Wirtschaftszivilkammer (mit drei Berufsrichtern) und einer Kammer für Handelssachen (mit einem Berufsrichter und zwei speziell ausgebildeten Handelsrichtern). In Stuttgart ist der Commercial Court bereits ab einem Streitwert von 1,0 Mio. EUR, in Mannheim erst ab einem Streitwert von 2,0 Mio. EUR zuständig für:
- Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Kauf von Unternehmen oder Unternehmensanteilen,
- Streitigkeiten aus beiderseitigen Handelsgeschäften,
- gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten sowie
- Streitigkeiten aus Bank- und Finanzgeschäften (nur in Mannheim).
Ob innerhalb der Landgerichte Stuttgart und Mannheim eine Streitigkeit dem Commercial Court zugeteilt wird, bestimmt sich ausschließlich nach dem örtlichen Geschäftsverteilungsplan.
Beide Commercial Courts sind auf größere wirtschaftsrechtliche und internationale Streitverfahren spezialisiert und mit hoch spezialisierten Richtern besetzt. Sie bearbeiten die Fälle in einem schnellen und effizienten Verfahren in Konferenzraum-Atmosphäre unter Einsatz moderner Kommunikationstechnik sowie im starken Dialog mit den Parteien, wie es sonst nur bei Schiedsverfahren der Fall ist. Mit dem Angebot, über die mündliche Verhandlung neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Rahmenprotokoll bei Bedarf zusätzlich – wie in Schiedsverfahren üblich – ein Wortprotokoll anzufertigen, wird einem weiteren Kritikpunkt an staatlichen Gerichtsverfahren begegnet.
Seit Implementierung des Stuttgarter Commercial Court im November 2020 gab es dort rund 600 Verfahrenseingänge, die zusammen einen Streitwert von circa einer halben Milliarde Euro haben. Die durchschnittliche Verfahrensdauer betrug lediglich circa sechseinhalb Monate (anstatt sonst üblicher mehrerer Jahre) und die Rechtsmittelquote ist mit unter zehn Prozent sehr gering.
Aktueller Referentenentwurf des Bundesministeriums
Nach den vergeblichen Versuchen in den letzten dreizehn Jahren und dem erst im April 2023 vom Rechtsausschuss abgelehnten Gesetzesentwurfs des Bundesrats, hat das Bundesjustizministerium am 25. April 2023 einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit“ veröffentlicht. Dieser sieht unter anderem vor, dass die Bundesländer sog. Commercial Chambers an ausgewählten Landgerichten sowie sog. Commercial Courts an ihren Oberlandesgerichten einrichten können. Die Commercial Courts sollen als Spezialsenate für große internationale Streitigkeiten in Handelssachen erstinstanzlich ab einem Streitwert von 1,0 Mio. EUR zuständig sein. Gegen eine erstinstanzliche Entscheidung der Commercial Courts soll die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) stets zulässig sein.
Begründet wird der Referentenentwurf damit, dass die zunehmende Globalisierung, die wachsende Komplexität der Rechtsbeziehungen sowie die veränderten Erwartungen der Rechtssuchenden an die Justiz Anpassungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Prozessrechts erfordern, um auch künftig die hohe Qualität und Attraktivität der deutschen Ziviljustiz zu sichern.
Für die Umsetzung soll die Bundesregierung eine entsprechende Landesöffnungsklausel im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) einfügen sowie die Zivilprozessordnung (ZPO) und das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) anpassen.
Das geplante Bundesgesetz soll ermöglichen, dass Commercial Courts die (nahezu) gleichen Leistungen anbieten, wie sie in der Schiedsgerichtsbarkeit seit Langem selbstverständlich sind:
- Die Zuständigkeit soll sich durch ausdrückliche oder stillschweigende Vereinbarung der Parteien ergeben.
- Es soll ein verstärkter Einsatz von Videokonferenztechnik stattfinden;
- die Verhandlungen können bei Einigkeit der Parteien gänzlich in englischer Sprache geführt werden. Deshalb soll es in der ZPO besondere Verfahrensregeln für englischsprachige Verfahren geben;
- das Verfahren soll durch eine sog. Case Management Conference strukturiert werden. Dabei handelt es sich um einen aus der Schiedsgerichtsbarkeit bekannten und bewährten Organisationstermin mit den Parteien, in dem vorab bestimmte Verfahrensgrundsätze festgelegt und ein Verfahrensplan erarbeitet wird;
- es sollen mehrtägige Verhandlungen und Beweisaufnahmen am Stück möglich sein;
- Bei übereinstimmendem Parteiantrag soll ein Wortprotokoll geführt werden; und
- sensible Geschäftsgeheimnisse sollen nicht erst ab dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, sondern schon ab Klageerhebung besonders geschützt sein.
Bleibende Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit gegenüber den Commercial Courts
Doch auch wenn der Referentenentwurf in naher Zukunft als Gesetz verabschiedet wird und die bundesweiten Spezialsenate angerufen werden können werden, wird die Schiedsgerichtsbarkeit aufgrund ihrer weiterhin bestehenden Vorteile gegenüber den Commercial Courts nicht über Nacht verschwinden. Auch die OLG-Spezialsenate werden absehbar nicht mit dem in der Praxis als Vorteil empfundenen sachkundigen und vor allem frei wählbaren Schiedsrichters mithalten können. Zudem ist die Vollstreckbarkeit von deutschen Gerichtsurteilen außerhalb Europas nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden oder gar unmöglich. Für Schiedssprüche gilt das sog. New Yorker Übereinkommen von 1958, mit dem sich bisher 166 Staaten zur gegenseitigen Vollstreckung von Schiedssprüchen verpflichtet haben. Ein solch vergleichbares Übereinkommen fehlt jedoch bisher für Gerichtsurteile aus Deutschland.
Fazit
Die Einrichtung der Commercial Courts in Baden-Württemberg und der aktuelle Referentenentwurf sind ein erster Schritt auf einem langen Weg zur Einführung von bundesweiten Commercial Courts in Deutschland. In einem zweiten Schritt bleibt abzuwarten, welche Kosten für den Aufbau und Unterhalt dieser Commercial Courts anfallen und inwieweit die deutsche Justiz die Änderungen umsetzen wird.
Aber nur wenn Politik und Justiz zusammenarbeiten, wird der Justiz- und Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig durch die bundesweit einheitliche Einführung von Commercial Courts gestärkt. Langfristiges Ziel ist es, dass ein größerer Teil der Verfahren mit hohen Streitwerten schon aus Kostengründen statt von der Schiedsgerichtsbarkeit von Commercial Courts entschieden wird und so wieder ein Gleichstand zwischen der Schiedsgerichtsbarkeit und den staatlichen Gerichten eintritt.
Gerne stehen Ihnen die Prozessrechtsanwälte von SKW Schwarz für Fragen im Zusammenhang mit den Commercial Courts zur Seite.
1 dieser Begriff wird im Folgenden einheitlich für alle Richterinnen und Richter verwendet