In Patentsachen ist der Erlass einer einstweiligen Verfügung (EV) grundsätzlich möglich. Allerdings ist in Patentverletzungssachen ein technischer Sachverhalt zu beurteilen, was dem Gericht im Rahmen eines sog. summarischen Verfahrens (hier findet lediglich eine vorläufige und kursorische Prüfung statt) aufgrund dessen Komplexität selten möglich sein wird.
Hiervon geht auch die Rechtsprechung (bislang) aus. Sie zieht den Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung im Grundsatz nur dann in Betracht, wenn sowohl der Bestand des Verfügungspatents als auch die Patentverletzung im Ergebnis eindeutig gegeben sind. D.h., eine fehlerhafte, in einem etwaigen nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung darf nicht ernstlich zu erwarten sein. Es handelt sich hier um eine vom Gericht vorzunehmende Prognoseentscheidung.
Nach der bisherigen Rechtsprechung könne im Regelfall nur dann von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand des Verfügungspatents ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden habe. Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents können bereits dann bestehen, wenn das Patent mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffen wurde. Nach der Rechtsprechung kann in wenigen Sonderfällen von einer Rechtsbestandsentscheidung abgesehen werden, z.B. bei Generikasachverhalten, wenn der Antragsgegner bereits mit eigenen Einwendungen am Erteilungsverfahren beteiligt war, die Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents sich schon bei summarischer Prüfung als haltlos erweisen oder bei bevorstehendem Schutzrechtsablauf.
Die Vorlagefrage des Landgerichts München I (21. Zivilkammer)
Das Landgericht München I (21. Zivilkammer, Az. 21 O 16782/20) zweifelte an dieser Rechtsprechung und hatte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unlängst die Frage vorgelegt, ob diese Rechtsprechung mit Art. 9 Abs. 1 der Durchsetzungsrichtlinie (RL 2004/48, oft auch als „Enforcement-Richtlinie“ bezeichnet) vereinbar sei. Es hatte recht allgemein gefragt, ob der Erlass einstweiliger Maßnahmen wegen der Verletzung von Patenten grundsätzlich verweigert werden kann, wenn das betreffende Patent nicht zumindest ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat.
Die Antwort des EuGH
Der EuGH hat in seiner Antwort (Az. C-44/21 – „Phoenix Contact/Harting“) hervorgehoben, dass für angemeldete europäische Patente ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit bestehe und sie daher ab diesem Zeitpunkt den vollen Schutzumfang der Durchsetzungsrichtlinie genießen. Es bedürfe daher keiner rechtserhaltenden Entscheidung in einem Rechtsbestandsverfahren als Voraussetzung für die Begründetheit des Verfügungsverfahrens.
Diese Gültigkeitsvermutung kann aber nicht absolut gelten. Der Erteilungsakt als solcher rechtfertigt noch nicht den Erlass einer Unterlassungsverfügung. In diesem Zusammenhang lässt die Entscheidung des EuGH den Instanzgerichten den nötigen Freiraum, Kriterien zu entwickeln, nach denen in einstweiligen Verfügungsverfahren von einem Rechtsbestand des Verfügungspatents mit hinreichender Sicherheit ausgegangen werden kann. Schließlich verbietet sich eine schematische Betrachtung und alle Umstände des Einzelfalls sind gebührend zu berücksichtigen. Kriterien für eine den Instanzgerichten obliegende Prognoseentscheidung bzgl. des Rechtsbestands hat der EuGH nicht genannt.
Auswirkungen der EuGH-Entscheidung
Die praktische Auswirkung der Entscheidung des EuGH ist noch nicht vollständig ersichtlich. Es ist anzunehmen, dass die Instanzgerichte von ihrer bisherigen Rechtsprechung nicht wesentlich abweichen werden, sondern vielmehr die Grundsätze des EuGH in diese implementieren werden. Aktuelle Beispiele:
- Das Landgericht München I (7. Zivilkammer) hat in aktuellen Entscheidungen (Urt. v. 29. September 2022, Az. 7 O 4716/22; Urt. v. 27. Oktober 2022, Az. 7 O 10295/22 – jeweils nicht rechtskräftig) die neue EuGH-Rechtsprechung trotz des Vorliegens von Generikasachverhalten aufgegriffen: Für europäische Patente streite ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Erteilung eine Vermutung der Gültigkeit. Das Landgericht München I scheint dies auch auf die Verletzung deutscher Teile von Patenten zu erstrecken. Daher sei im Rahmen der Prüfung des Verfügungsgrundes zunächst von einem gesicherten Rechtsbestand auszugehen. Es obliege dann dem Antragsgegner, diese Vermutung zu erschüttern. Seien erhebliche und die Kammer überzeugende Gründe für die überwiegend wahrscheinliche Vernichtung des Verfügungspatents vorgetragen und glaubhaft gemacht, mithin die Vermutung der Gültigkeit erschüttert, obliege es wiederum dem Antragsteller darzulegen und glaubhaft zu machen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents trotz der hiergegen erhobenen Angriffe hinreichend gesichert sei. Das Landgericht München I hat diese „Vermutungswirkung“ als wechselseitige Überleitung der Darlegungs- und Beweislast zwischen Antragsteller und Antragsgegner ausgestaltet. Die Kammer bekräftigt weiterhin das Erfordernis für Zweifel am Rechtsbestand, dass grundsätzlich ein tatsächlicher Angriff des Verfügungspatents durch Einspruch oder Nichtigkeitsklage vorliegen müsse bzw. zumindest zweifelsfrei absehbar sei, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents zu gegebener Zeit angegriffen werde.
- Dagegen hat das Landgericht Düsseldorf in einer aktuellen Entscheidung (Urt. v. 22. September 2022, Az. 4 b O 54/22 – nicht rechtskräftig) in Frage gestellt, dass (1.) mit der Erteilung des Verfügungspatents als solcher eine Vermutungswirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents verbunden und (2.) damit eine Vermutung im rechtlichen Sinne gemeint sei. Eine solche Vermutungswirkung sei jedenfalls dadurch widerlegt, dass der Antragsgegner Einspruch gegen die Erteilung eingelegt hat und Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungspatents erhebt, die noch dazu zum Widerruf des Stammpatents geführt haben.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Oberlandesgerichte zur EuGH-Entscheidung äußern und positionieren werden. Eine völlige Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung fordert die EuGH-Entscheidung jedenfalls nicht. Eine zunehmende Anzahl von einstweiligen Rechtsschutzanträgen dürfte aber gewiss sein. Das Landgericht München I hat allein durch seine Kritik an der derzeitigen Rechtsprechung und der Vorlage an den EuGH die Rechteinhaber zumindest mittelbar ermutigt, derartige einstweilige Rechtsschutzanträge in München einzureichen.
Ein Ausblick zum UPC
Das neue Einheitspatentsystem mit dem Einheitlichen Patentgericht (Unified Patent Court – UPC) sieht ebenfalls einstweiligen Rechtsschutz vor, wobei nach der Verfahrensordnung des Einheitlichen Patentgerichts seitens des Gerichts bei der Ausübung des Ermessens zu berücksichtigen ist, ob das Patent in einem Einspruchsverfahren vor dem EPA aufrechterhalten wurde oder Gegenstand eines Verfahrens vor einem anderen Gericht war. Die inhaltliche Bedeutung und Ausgestaltung bleibt abzuwarten. Durch das Hinzuziehen von technisch qualifizierten Richtern können einstweilige Entscheidungen erheblich an (technischer) Qualität gewinnen.