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03.09.2024

Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist – Das neue Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz im Realitäts-Check

Die Süßwarenindustrie boomt trotz wachsendem Gesundheitsbewusstsein. Doch das neue Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz könnte die Werbung für zucker-, fett- und salzhaltige Lebensmittel, die sich an Kinder richtet, stark einschränken. Während Gesundheitsverbände das Gesetz als wichtigen Schritt sehen, kritisiert die Industrie die weitreichenden Werbeverbote. Ob und wann das Gesetz tatsächlich in Kraft tritt, bleibt ungewiss. Bis dahin bleibt die Zukunft der Süßwarenwerbung offen.

Seit die „wahrscheinlich längste Praline der Welt“ im Jahr 2016 zur „smartesten Praline der Welt“ mutierte, hat die Süßwarenwerbung endgültig das digitale Zeitalter erobert. Trotz eines wachsenden Gesundheitsbewusstseins in Deutschland eilt die Süßwarenindustrie weiterhin von Umsatzrekord zu Umsatzrekord – dem Vernehmen nach stieg der Inlandsumsatz in Deutschland im Jahr 2023 um ganze 11,9 Prozent (Quelle: Schätzung des BDSI). Das Geschäft mit Süßwaren brummt, und das, obwohl der durchschnittliche Zuckerkonsum pro Kopf und Jahr im gleichen Zeitraum um gut vier Prozent zurückgegangen ist (Quelle: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft).

Neues Gesetz zur Reduzierung vermeintlich ungesunden Lebensmittelkonsums

In Deutschland verzehren Kinder und Jugendliche etwa das Doppelte der empfohlenen Menge an Süßwaren und anderen Snacks, während der Verzehr von Obst und Gemüse nur bei etwa der Hälfte der von der WHO empfohlenen Menge liegt. Der Koalitionsvertrag Bundesregierung sieht daher zwei Maßnahmen vor: Zum einen hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, wissenschaftlich fundierte und zielgruppengerechte Reduktionsziele für Zucker, Fett und Salz festzulegen. Zum anderen soll an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt in Sendungen und Formaten für unter 14-jährige verboten werden. Bereits am 27. Februar 2023 stellte der Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) seinen Referentenentwurf für ein neues Gesetz zur Regulierung der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung (Entwurf eines Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes – KLWG-E) vor. Mittlerweile liegt die vierte überarbeitete Fassung des Referentenentwurfs vom 28. Juni 2024 vor, die zwar noch unveröffentlicht ist, aber bereits geleakt wurde.

Kritik aus allen Richtungen

Der Referentenentwurf trifft auf viel Kritik. Bewegt hat sich deshalb nur wenig. Dass das fertige Gesetz, dessen Erlass vor Ende der Legislaturperiode stark zu bezweifeln ist, dem Referentenentwurf auch nur annähernd ähneln wird, darf als so gut wie ausgeschlossen gelten: Beide Koalitionspartner, FDP und SPD, kritisieren den aktuellen Entwurf, der doch eigentlich noch vor der Sommerpause 2024 in den Deutschen Bundestag hätte eingebracht werden sollen. Der Entwurf sei „eigentlich nicht brauchbar“ und gehe „aus wirtschaftlicher Sicht eindeutig zu weit“. Auch in den Kreisen des grünen Wirtschaftsdialogs mehren sich Bedenken an der Reichweite der vorgeschlagenen Regelungen.

Weitreichende Werbeverbote würden Süßwaren-Werbung faktisch unmöglich machen

Anlass der Kritik sind unter anderem zwei weitreichende Werbeverbote: Zum einen ein Totalwerbeverbot gegenüber Kindern in § 4 Abs. 1 KLWG-E. Hiernach soll es untersagt sein, Werbung für die in § 3 KLWG-E definierten, die Höchstwerte überschreitenden zucker-, salz- und fetthaltigen Lebensmittel zu betreiben, wenn sich diese Werbung nach Art, Inhalt oder Gestaltung an Kinder richtet, unabhängig von dem gewählten Medium (Hörfunk, Presse, Druckerzeugnisse, Internet, Fernsehen, Videoplattformen, Außenwerbung). Die Auslegung des Begriffs „Gestaltung“ soll nach der Gesetzesbegründung extrem weit gehen und unter anderem kinderspezifische Schlüsselwörter, unter Kindern beliebte Prominente und Figuren oder Symbole mit umfassen. Darunter sind Cartoon-Charaktere und Maskottchen genauso zu verstehen wie etwa die Bewohner der Sesamstraße. Die bisherige Aufzählung der Gestaltungskriterien in § 4 Abs. 1 S. 2 KLWG-E ist als Katalog von Regelbeispielen ausgestaltet und soll insoweit nicht abschließend sein. Entscheidend für das Eingreifen des Werbeverbots ist die von der jeweiligen Werbung erzielte Gesamtwirkung. Haribo macht dann wohl nur noch Erwachsene froh – Kinder nicht mehr so.

Darüber hinaus regelt § 4 Abs. 2 KLWG-E ein adressatenunabhängiges Teilwerbeverbot für die entsprechenden Lebensmittel. Hiernach soll es unabhängig von der Art, dem Inhalt oder der konkreten Gestaltung der Werbung untersagt sein, Werbung zu betreiben, wenn sich diese nach ihrem zeitlichen, räumlichen oder inhaltlichen Kontext an Kinder richtet. Konkret heißt das: Keine Süßwarenwerbung in für verschiedene Werbeträger spezifischen Zeiten, in 100 Metern Umkreis zu Schulen und ähnlichen Einrichtungen oder im Kontext mit auch Kinder ansprechenden Inhalten. Faktisch dürfte letzteres nahezu immer auch dann gegeben sein, wenn sich die Werbung eigentlich an ein informiertes erwachsenes Publikum richtet. So soll zum Beispiel eine TV-Werbung für Süßwaren von Montag bis Freitag jeweils zwischen 17 und 22 Uhr zukünftig schlicht verboten sein. Während die Idee eines „Umgehungsverbotes“ theoretisch interessant ist, wirft die praktische Umsetzung Fragen auf. Welches Kind schaut beispielsweise zwischen 17 und 22 Uhr wahllos und ohne elterliche Aufsicht fern? Vielmehr dürfte es auch hier auf das konkrete Fernsehprogramm ankommen und ob es für Kinder besonders interessant ist.

Einseitige Verantwortungslast

Adressaten der Regelung sind allerdings nicht etwa die Anbieter von Mediendiensten und anderen Werbeplattformen – diese benennt das Gesetz explizit als „Werbeträger“. Angesprochen wird in § 2 KLWG-E ausdrücklich nur der „Betreiber“ der Werbung, also derjenige, der die Werbung konzipiert, produzieren lässt, aktiv platziert und deren Ausstrahlung in Auftrag gibt:

Dazu zählt die Gesetzesbegründung Lebensmittelunternehmen, Werbeagenturen und Influencer. Die Mediendienste bleiben dagegen außenvor. Diese bleiben weiterhin nur den ihnen in § 6 Abs. 7 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages auferlegten Selbstverpflichtungen unterworfen, wonach durch sie geeignete Maßnahmen zu treffen sind, um die Einwirkung von Werbung mit den in Rede stehenden Lebensmitteln auf Kinder wirkungsvoll zu verringern. Diese Regelung geht wiederum auf Art. 9 Abs. 6 der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) zurück, die allerdings nur mindestharmonisierend ist, im nationalen Recht also auch strenger als im Richtlinientext vorgesehen umgesetzt werden darf. Hauptzweck der Adressierung der Lebensmittelunternehmen und Werbeagenturen im KLWG-E ist, möglichen Kollisionen mit dem Medienstaatsvertrag und dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag aus dem Weg zu gehen und so die Gesetzgebungskompetenz der Länder für den Rundfunk zu umgehen. Dies geht zweifelsohne zu Lasten der Industrie, die am Ende des Tages auf die rechtskonforme Umsetzung ihrer Aufträge durch die Mediendienste angewiesen ist.

Empfindliche Strafen zu befürchten

Die Rechtsfolgen von Verstößen ergeben sich aus den §§ 6-8 KLWG-E. Auf die Vorschriften des KLWG-E soll das Wettbewerbsrecht Anwendung finden, sodass bei Verstößen neben den öffentlich-rechtlichen Folgen auch Abmahnungen, Klagen und Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes durch Mitbewerber, Wettbewerbs- und Verbraucherschutzverbände drohen (§ 6 KLWG-E). Die für die Überwachung der Einhaltung der Werbeverbote zuständigen Landesbehörden (§ 7 KLWG-E) können Verstöße mit behördlichen Beanstandungen und Bußgeldern bis zu einer Höhe von EUR 30.000,- ahnden (§ 8 KLWG-E).

Deutsche Süßwarenhersteller als Verantwortliche benachteiligt

Die berechtigte Kritik gegen den Entwurf ist mannigfaltig: Angezweifelt wird schon die Kategorisierung der Lebensmittel und die Abgrenzung dessen, was zu viel der verschiedenen Nährstoffe überhaupt bedeutet. Betroffen könnten demnach 70 % aller Lebensmittel sein. Auch die Wirksamkeit von Werbeverboten erscheint fraglich. Der Entwurf geht deshalb inhaltlich zu weit. Abgesehen davon, leidet der Referentenentwurf aber auch an erheblichen handwerklichen Schwächen, die massive Auswirkungen auf die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort haben könnten.

Die Adressierung der Hersteller anstelle der Mediendienste (vgl. o.) mag auf den ersten Blick wie ein geschickter Kniff wirken, um die Gesetzgebungskompetenz der Länder auszuhebeln. Allerdings werden die neuen Regelungen vor dem Hintergrund der AVMD-Richtlinie nur auf solche Unternehmen Anwendung finden können, die ihre Niederlassung in Deutschland haben. An einem europarechtlichen Mandat fehlt es gerade, da die Richtlinie ausschließlich eine Selbstregulierung der Mediendienste anspricht und darüber hinaus keine Verpflichtungen zur mitgliedstaatlichen Werberegulierung formuliert. Insoweit könnte ein tatsächliches Inkrafttreten des KLWG zu einer Abwanderung der Marketingabteilungen großer Süßwarenhersteller und entsprechend spezialisierter Werbeagenturen in das europäische Ausland führen. Von dort aus wäre die Beauftragung von Werbung an die Mediendienste ohne Weiteres möglich. Die Regelung würde ineffizient und zugleich all diejenigen diskriminieren, die ihren Sitz in Deutschland aufrechterhielten. „Quadratisch, praktisch, gut“ geht anders.

Selbst wenn die Mediendienste im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch als Adressaten der Regelung erfasst würden, würde das Gesetz in der aktuellen Form nur eine Verlagerung des Schwerpunkts der Werbung aus dem linearen Fernsehen und der Plakat- und Rundfunkwerbung in das Internet bewirken. Hier würde das Verbot aufgrund des gebotenen Inlandsbezugs des Gesetzes geradezu zu einer Umgehung einladen. Weiterhin gebietet das Sendestaatsprinzip in Art. 3 Abs. 1 AVMD-RL die Gewährleistung des freien Empfangs audiovisueller Mediendienste aus anderen Mitgliedsstaaten. Die Werbung in ausländischen Fernsehsendern wird also ohnehin nicht zu verhindern sein. Abgesehen von der eklatanten, mit dem aktuellen Entwurf des KLWG einhergehenden Inländerdiskriminierung und den wirtschaftlichen Folgen für den Industriestandort Deutschland sieht Prof. Dr. Burgi, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität, in seinem über 90-seitigen Gutachten über den Referentenentwurf eine Vielzahl weiterer, erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken.

Fazit: Vorerst keine Umsetzung zu erwarten

Auch losgelöst von den inhaltlichen und handwerklichen Mängeln ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass das KLWG noch in dieser Legislaturperiode beschlossen wird – zu viele Änderungen in zu kurzer Zeit wären nötig. Bis etwa spätestens April 2025 müsste ein beschlussfertiger Entwurf in den Bundestag eingeleitet werden, um das Gesetzgebungsverfahren noch rechtzeitig abschließen zu können. Ob das Gesetz ohne solche Änderungen einem Normenkontrollverfahren standhielte, darf zurecht bezweifelt werden. Und so können wir uns jedenfalls bis auf Weiteres an der „zartesten Versuchung, seit es Schokolade gibt“ und weiteren Evergreens der Süßwarenwerbung erfreuen.

Für konkrete Maßnahmen aufseiten der Industrie ist es daher eigentlich noch zu früh. Zu unklar bleiben vorerst die tatsächliche Umsetzung der bisherigen Entwürfe und die tatsächliche Reichweite des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes. Es darf zwar als äußerst wahrscheinlich gelten, dass im Laufe der kommenden Jahre Einschränkungen der Süßwarenwerbung in Kraft treten werden. Insoweit und auch vor dem Hintergrund einer immer gesundheitsbewussteren Bevölkerung wird es sicherlich förderlich sein, die Machbarkeit von Anpassungen der Zuckeranteile in bestimmten Lebensmitteln wie Softgetränken zu prüfen.

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